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Der Inzidenzwert und Ockhams Rasiermesser

Der Bundespräsident hat am 22. April 2021 ein weitreichendes Gesetz unterzeichnet, das eine einzelne, konkret benannte Kennzahl zum Maßstab für die Rechtfertigung gravierender Grundrechtseingriffe adelt. Gleichzeitig wird dem Robert-Koch-Institut (RKI), einer Bundesbehörde, die Definition und laufende Ermittlung dieser Kennzahl übertragen.

  • Warum erinnert mich der sog. Inzidenzwert an das wissenschaftstheoretische Sparsamkeitsprinzip aus dem 14. Jahrhundert, auch bekannt als „Ockhams Rasiermesser“?
  • Und warum hinkt der Vergleich?

Mit Kennzahlen habe ich mich mein ganzes Berufsleben lang auseinandergesetzt. Man bildet in der Regel einen Quotienten aus Zähler und Nenner. Sinnvollerweise sollte irgendeine Beziehung zwischen beiden Größen bestehen. Es ist der Anspruch von induktiver Statistik, Zusammenhänge darzustellen und den Einfluss unabhängiger Faktoren auf eine abhängige Größe zu quantifizieren. Deskriptive Statistik verzichtet dagegen auf die Erforschung solcher Zusammenhänge, sondern beschreibt lediglich gewisse Unterschiede – regional, soziologisch, zeitlich usw. Daran kann man sicher Auffälligkeiten erkennen. Sie werfen in erster Linie Fragen auf, liefern aber keine Antworten als Grundlage für sinnvolles Handeln beim Bekämpfen von Ursachen.

 

Der Inzidenzwert steht im Mittelpunkt der aktuellen epidemiologischen Debatten und gesetzlichen Regelungen. Er ist eindeutig ein rein deskriptiver Wert mit einem annähernd bekannten, festen Nenner (100.000 Einwohner) und einem recht beweglichen Zähler, der u. a. von der Testhäufigkeit abhängig ist. Laut RKI werden hier labordiagnostisch bestätigte Verdachtsfälle und Erkrankungen zahlenmäßig zusammengefasst, wobei zuvor ein Algorithmus die Meldungen der Gesundheitsämter validiert.

 

Die Konzentration auf einen zentralen Faktor war auch die Forderung, die Wilhelm von Ockham (1288 - 1347) bei seinen wissenschaftstheoretischen Überlegungen aufgestellt hat und die als „Ockhams Rasiermesser“ über die Jahrhunderte hinweg diskutiert wurde. Laut Wikipedia besagt dieses Prinzip, auch Sparsamkeitsprinzip genannt, folgendes:

  1. Von mehreren hinreichenden möglichen Erklärungen für ein und denselben Sachverhalt ist die einfachste Theorie allen anderen vorzuziehen.
  2. Eine Theorie ist einfach, wenn sie möglichst wenige Variablen und Hypothesen enthält und wenn diese in klaren logischen Beziehungen zueinanderstehen, aus denen der zu erklärende Sachverhalt logisch folgt.

Das bedeutet, man „rasiert“ die weitergehenden, weniger bedeutsamen oder weniger bekannten Einflussgrößen weg und konzentriert sich auf das Offenkundige, allgemein Verständliche und Naheliegende.

 

Und warum hinkt der Vergleich? Der Inzidenzwert erfasst überhaupt keine logischen, kausalen Beziehungen, wird aber eingesetzt als ein gesetzlich und demokratisch sanktioniertes Rasiermesser. Ein scharfes, aber ziemlich dummes Instrument, das großen Schaden anrichtet.

PS: Das war ein Beitrag zur (mentalen) Hygiene. Ich musste mir es einfach von der Seele schreiben. Schließlich durfte ich einmal das Fach „Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten“ für unseren Masterstudiengang entwickeln und betreuen und irgendwie irritieren mich die „wissenschaftlichen“ Begründungen aktueller politischer Maßnahmen.

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Kommentare: 1
  • #1

    Wolfgang Ziegler (Sonntag, 03 April 2022 18:10)

    Ein Jahr später lese ich in der Wochenendausgabe meiner Tageszeitung einen Kommentar von Katharina Ritzer.
    "Kann sich noch jemand erinnern, wie ganz Deutschland mit bangem Blick auf die Sieben-Tage-Inzidenz geguckt und vor der Zahl 35 gezittert hat? Das ist lange her, derzeit liegt die Inzidenz wohl irgendwo über dem Wert 2000. Genau weiß das aber niemand, auch wenn das RKI sogar mit Nachkommastellen arbeitet und gestern einen Wert von 1586,4 veröffentlicht hat. Diese Zahl suggeriert eine Genauigkeit, die es derzeit gar nicht geben kann..."
    Soweit die Einleitung zu einem anschließend eher resignativen Kommentar. Schön aber doch, an die Geburtsstunde des Inzidenzwerts erinnert zu werden. Und wie hat sich das Baby entwickelt? Erwartungsgemäß? Prächtig? Erschreckend? Exponentiell? Apokalyptisch?
    Das ist wohl Ansichtssache.